Kapitel 2

Die Bibel sagt, dass die Wahrheit eine Person frei mache, doch Adelaide hatte sich noch nie in ihrem Leben gefangener gefühlt. Am liebsten hätte sie Henry ins Gesicht geschlagen und ihm vor die Füße gespuckt. Die Frau am Arm des Mannes, an dessen Seite sie selbst hätte stehen sollen, hätte sie am liebsten erwürgt. Und dann wollte sie noch um ihren zerbrochenen Traum weinen. Doch sie tat nichts dergleichen. Nach allem, was passiert war, war die Frau sehr freundlich zu ihr gewesen. Der Junge, der sie mit großen Augen anstarrte, verdiente es, dass der Glaube an seinen Vater nicht erschüttert wurde. Dass aus dieser Begegnung für sie selbst ein Desaster entstanden war, reichte völlig.

Adelaide kämpfte gegen die Galle an, die ihr in den Hals stieg, und verzog ihren Mund zu etwas, das hoffentlich wie ein Lächeln wirken würde. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mrs Belcher.“

Die Frau nickte freundlich. „Sind Sie länger in der Stadt?“

„Nein. Meine Angelegenheiten hier haben sich schneller erledigt, als ich angenommen hatte. Ich werde in Kürze wieder abreisen.“

Am liebsten wäre sie sofort auf Sabas Rücken davongaloppiert. Aber der Anstand gebot, dass sie höflich plauderte und verbarg, dass in ihrem Inneren gleich ein Sturm der Gefühle losbrechen wollte.

„Wir müssen jetzt wirklich gehen, Caroline. Du weißt, wie viel Büroarbeit zu Hause noch auf mich wartet.“ Die Quelle ihrer Misere wurde zu ihrer Rettung, als Henry seine Familie in Richtung Tür schob. Natürlich sorgte er sich mehr darum, sich selbst zu schützen als sie, doch sie war einfach nur froh, dass sie ihn endlich los war.

„Guten Abend, Miss Proctor“, rief er noch über die Schulter, ohne ihr in die Augen zu sehen.

„Auf Wiedersehen, Mr Belcher.“

In dem Moment, als die Familie die Straße betrat, raffte Adelaide ihren Rock und stürmte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Ihr leerer Magen zählte nicht mehr. Die neugierigen Hotelgäste zählten nicht. Die Tatsache, dass sie immer noch die halb zerknüllte Zeitschrift in ihrer Hand hielt, zählte nicht. Alles, was jetzt für sie zählte, war, diesem Ort zu entkommen.

Als die Zimmertür hinter ihr ins Schloss gefallen war, warf Adelaide sich auf ihr Bett und fing an zu schluchzen. Sie erstickte ihre Tränen in dem weißen Kissen, das das Zimmermädchen so wunderbar arrangiert hatte, und weinte, bis es völlig durchweicht war. Als sie keine Tränen mehr hatte, stieg Ärger in ihr auf. Erst wurde sie wütend auf das Kissen, weil es jetzt so nass und unansehnlich war, und warf es zornig durch den Raum. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der arglosen Matratze zu und schlug mit den Fäusten auf sie ein.

Wie hatte er ihr Vertrauen so missbrauchen können? Er hatte sie stets in dem Glauben gelassen, er sei unverheiratet. Dieser Schuft! Sie hatte alles für ihn aufgegeben. Ihre Arbeitsstelle. Ihre Freunde. Ihre Selbstachtung. Wahrscheinlich hatte dieser Halunke an jedem Bahnhof von Longview bis Abilene eine Verehrerin. Frauen, die ihn auf seinen einsamen Reisen ablenken konnten. Witwen. Unverheiratete. Einsame Frauen, die anfällig für seinen Charme waren. Frauen, die sich schnell in die Irre führen ließen. Frauen … wie sie.

Ein kummervolles Seufzen entrang sich ihrer Brust. Wie hatte sie nur so eine Närrin sein können? Sie hätte stutzig werden sollen, weil er nie detailliert über eine gemeinsame Zukunft gesprochen, sondern immer nur vage Andeutungen gemacht hatte. Und da stand sie nun, mit laufender Nase, verquollenen Augen, schweren Armen, weil sie eine Hotelmatratze attackiert hatte – alles für einen Mann, den sie eigentlich nie geliebt hatte.

Um ehrlich zu sein, war sie nicht wütend, weil sie Henry verloren hatte. Sie beklagte den Verlust ihrer Träume, die er repräsentiert hatte. Romantik. Eine Familie. Eine Schulter, an die sie sich lehnen konnte, und ein liebevolles Lächeln, das nur ihr galt. Sie hatte ihm seine Quacksalberei abgekauft, in der Hoffnung, dass es das Heilmittel für den Kummer ihres Herzens sei. Doch sein Stärkungsmittel hatte sich als einfaches Zuckerwasser herausgestellt – anfangs süß und am Ende doch völlig wertlos.

Ermüdet ließ sie sich wieder auf das Bett sinken und rollte sich zu einer Kugel aus Selbstmitleid zusammen. Sie legte den Kopf auf die zerknitterte Tagesdecke und blickte in Richtung Zimmerdecke.

„Warum hast du das geschehen lassen, Herr?“ Ihre Stimme, rau und schwach, zitterte bei dieser Frage. „Du hast einen hinterlistigen Mann Jagd auf eins deiner Kinder machen lassen. Warum hast du mich nicht vor ihm beschützt, anstatt dass ich mich völlig zum Narren mache?“

Wieder wurde sie von der großen Ungerechtigkeit überwältigt, die ihr zuteilgeworden war, und schlug die Matratze ein letztes Mal. Dann zeigte sie anklagend mit dem Finger in Richtung Decke. „Ich habe gebetet, Gott. Das weißt du. Wochenlang habe ich dich gefragt, was ich wegen Henry unternehmen soll. Ich habe um Weisheit gebeten. Ich habe um Führung gebeten. Und alles, was ich von dir bekommen habe, war Schweigen. Wie sollte mir das bitteschön helfen?“

Sie vernahm keine Antwort. Gott schien ihr im Moment nichts zu sagen zu haben und sie wusste nicht, warum. Ihn anzuschreien machte die Sache sicher auch nicht besser, doch selbst David hatte in schweren Zeiten in seinen Psalmen geklagt, also schien das doch ein legitimes Mittel zu sein. Trotzdem fühlte sich ihre Tirade ein bisschen respektlos an.

Leise murmelte Adelaide eine Entschuldigung und lehnte sich mit dem Rücken an den Bettrahmen. Seufzend zog sie die Knie an und schlang die Arme darum. Ihr Kopf sank auf die Knie, während sie trauerte. Warum hat Gott mich verlassen? Sie wusste, dass er seinen Kindern nie ein sorgenfreies Leben versprochen hatte, aber er hatte zugesagt, immer für sie da zu sein. Warum war er es nicht? Warum schwieg er?

Zu ausgelaugt, um Gottes Wege weiterhin verstehen zu wollen, griff Adelaide nach einem Bettpfosten und zog sich auf die Beine. Sie taumelte zu ihrem Koffer, zog ein frisches Baumwollnachthemd hervor und presste es gegen die Brust, während sie langsam ans Fenster trat und auf die Straße starrte.

Der Himmel hatte sich seit ihrer Ankunft aufgeklart, doch eine große Wolke schien sich dort hartnäckig zu halten. Sie hing direkt über dem Saloon auf der anderen Straßenseite und erinnerte sie an eine Bibelgeschichte, die sie ihre Schüler gelehrt hatte. In der Bibel hatte die Wolke Gottes natürlich über dem Heiligtum und nicht über einem Saloon geschwebt, doch es war ein Zeichen der Führung. Ein winziges Flattern rührte sich in ihrem Herzen. Wollte Gott ihr sagen, dass er auch jetzt bei ihr war?

Adelaide starrte die Wolke an und wartete … auf irgendetwas. Irgendeine Nachricht, die ihr aufzeigte, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte. Aber die Wolke hing einfach nur da, als hätte sie jemand am Himmel festgeklebt. Diesig, unbestimmt und völlig nutzlos. Adelaide seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Sie warf ihr Nachthemd aufs Bett und ließ sich in den gepolsterten Sessel fallen, der in der Zimmerecke stand. Die Füße zog sie wieder an sich, wie sie es auch als kleines Kind immer schon im Büro ihres Vaters getan hatte.

Wenn sie doch nur zurück nach Cisco gehen und so tun könnte, als sei das alles nicht geschehen. Aber das war unmöglich. Die örtliche Schulbehörde hatte ihre Stelle bereits wieder vergeben. Sie würde sich also nicht ernähren können. Außerdem wäre die Schmach zu groß. Getuschel über ihre blamable Männerwahl würde die Runde machen und ihren guten Ruf zerstören. Nein. Sie konnte nicht zurück.

Adelaide öffnete die Augen und starrte geradeaus. Sie würde nicht in Panik geraten, also atmete sie tief durch und erinnerte sich an ihren klaren Verstand, der ihr immer gut geholfen hatte, wenn es zum Beispiel in ihrem Klassenzimmer Probleme gegeben hatte. Nun gut. Herauszufinden, wohin Beth Hansens Brotdose jeden Tag nach der Pause verschwunden war, war wohl mit ihrer momentanen Situation kaum zu vergleichen, doch vielleicht konnten ihr geordnete Gedanken jetzt weiterhelfen.

Also gut. Sie wusste, wohin sie nicht gehen konnte – zurück nach Cisco. Das verringerte ihre Möglichkeiten auf ein paar Tausend andere. Also wie sollte sie sich für eine entscheiden?

Sie blickte über die Schulter hinweg in Richtung Fenster. Die Wolke stand immer noch am Himmel. Warum konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass sie extra für sie dort war? Wieder entstand dieses Flattern in ihrem Herzen, dieses Mal stärker als zuvor. Gott hatte schon in der Bibel immer wieder Wolken benutzt, um sein Volk zu führen. Vielleicht tat er das nun mit ihr.

Aber eine Wolke? Adelaide schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust. Konnte es ein unklareres Zeichen geben? Ein brennendes Signalfeuer am Himmel wäre sicher eindeutiger gewesen. Diese Nachricht hätte man nicht missverstehen können. Klar. Deutlich. Zuversichtlich.

Wolken verschleierten Dinge. Sie verdrängten die Sonne und machten alles undurchsichtig. Mit einer Wolke vor sich würde sie nie mehr als einen Schritt voraussehen können.

Denn als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende.

Der Spruch schoss ihr durch den Kopf und verdrängte ihre zweifelnden Gedanken. Vielleicht sprach Gott doch zu ihr. Nur nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Je mehr sie an Mose und die Israeliten dachte, die durch die Wüste gewandert waren, desto mehr wurde ihr die Rolle der Wolke bewusst. Sie hatte die Menschen damals nicht nur geleitet, nein, sie hatte Gottes Gegenwart enthalten. Durch sie hatte Gott mit Mose gesprochen und das Heiligtum mit seiner Herrlichkeit erfüllt. Das Volk Israel hatte seine Reise erst dann fortgesetzt, wenn sich die Wolke in Bewegung setzte. Sie hatten sich auf diese Wolke verlassen und waren nicht ohne sie weitergezogen.

Adelaide richtete sich in ihrem Sessel auf und begriff endlich. Sie war ohne die Wolke losgezogen. Sie senkte ihren Kopf.

„Gott, vergib mir meine Ungeduld. Ich habe getan, was ich für das Beste hielt, und mich nicht in deine Hände begeben. Ich habe dir nicht genug vertraut, um auf ein Zeichen von dir zu warten.“

Langsam und zitternd atmete sie ein. „Ich habe es wirklich alles in den Sand gesetzt, oder? Ich brauche dich jetzt mehr als je zuvor. Zeig mir, wohin ich gehen und was ich tun soll. Und bitte schenk mir genug Vertrauen, damit ich dir auch folgen kann, wenn ich noch nicht erkenne, wohin der Weg mich bringt. Im Namen Jesu, amen.“

Adelaide fühlte sich jetzt ruhiger, aber auch ein wenig betäubt. Wie mechanisch machte sie sich fertig fürs Bett. Erst der Spritzer kalten Wassers aus der Schale auf der Kommode und das raschelnde Nachthemd erfrischten ihren Geist. Sie schnappte sich das Kissen, das sie vorhin noch so stiefmütterlich behandelt hatte, und schüttelte es auf. Nachdem sie es wieder ordentlich auf ihrem Bett drapiert hatte, kroch sie unter die Decke und zog sie hoch. Papier knisterte.

Sie hob die Tagesdecke an und fand darunter die Zeitung, die sie aus dem Warteraum des Restaurants mitgenommen hatte. Adelaide faltete sie sorgsam zusammen und fing an, sie glatt zu streichen. Das arme Ding war eindeutig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte schrecklich gelitten.

Als sie sich daran machte, die Seiten zu ordnen, sprang ihr eine Anzeige ins Auge.

Gesucht:

Hauslehrerin für Tochter eines Farmbesitzers

Erfahrung und Referenzen nötig

Persönlich vorstellen bei Mr James Bevin

Ecke Houstonstraße und 13. West

Schwindel stieg in Adelaide auf und ließ eine Gänsehaut auf ihren Armen entstehen. Ihre Wolke hatte sich soeben in Bewegung gesetzt.

* * *

Am nächsten Morgen eilte Adelaide aufgeregt in Korsett und Unterhose in ihrem Zimmer umher und betrachtete ihre Kleider, die sie nebeneinander über den Möbeln drapiert hatte. Drei lagen auf dem Bett, zwei über dem Sessel und eins hing über dem Spiegel der Kommode. Wie konnte es sein, dass sie ihr gesamtes Leben ohne zu zögern hinter sich ließ, um einem Mann zu folgen, sich aber beim besten Willen nicht für ein Kleid entscheiden konnte, wenn es darauf ankam? Ein frustriertes Seufzen entfuhr ihr. Das ist verrückt. Ich muss mich einfach nur entscheiden.

Das Reisekleid von gestern und das gelbe Batistkleid waren zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, deshalb fielen sie heraus. Ihr cremefarbenes Reitkleid war für den Anlass nicht angemessen. Blieben das safranfarbene Kattunkleid, das goldene Wollkleid und das sonnengelbe Musselinkleid. Für das Wollkleid war es mit Sicherheit zu warm, jetzt, wo der Frühling in den Sommer überging. Sie liebte den Blumendruck auf dem Kattunkleid, doch wahrscheinlich wirkte das einfarbige Musselinkleid seriöser. Eine Minute lang überlegte sie noch, dann griff sie nach dem sonnengelben Stoff.

Eine halbe Stunde später machte Adelaide sich mit ihren Referenzen und Qualifikationsnachweisen und der Wegbeschreibung des Rezeptionisten auf den Weg zu Mr Bevin.

Das Gebäude, in dem er arbeitete, wirkte von außen langweilig und nichtssagend, doch als sie es betrat, umfing sie sofort eine freundliche und warme Atmosphäre. Das Büro war in dunklen Farben eingerichtet. Ein Hauch von Zigarrenqualm hing in der Luft. Braune Ledersessel bildeten eine gemütliche Sitzecke, über der sich das Gemälde einer englischen Fuchsjagd befand. Adelaide trat näher an das Bild, um es zu betrachten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie konnte die Hunde förmlich bellen hören.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Adelaide fuhr erschrocken herum und verschob dabei das Bild an der Wand. Hektisch richtete sie es wieder. Ein eifriger junger Mann setzte sich hinter einen polierten Mahagonischreibtisch und musterte sie durch runde Brillengläser.

Sie räusperte sich. „Ich bin hier, um Mr Bevin zu sehen.“

„Haben Sie einen Termin?“ Er hob eine Augenbraue und erinnerte Adelaide sehr an die arroganten jungen Männer, die sie in Boston kennengelernt hatte.

Sie richtete sich hoch auf und wandte ihren Kopf leicht zur Seite, als sei der Mann unter ihrer Würde. „Informieren Sie Mr Bevin bitte, dass Miss Adelaide Proctor auf seine Einladung hin erschienen ist. Er hat keine genaue Uhrzeit genannt, als er mich um mein Erscheinen bat, also ging ich davon aus, dass er mich unverzüglich sehen wollte. Wenn Sie jetzt so gut wären, Mister …“ Sie bedeutete ihm aufzustehen, wie eine Königin, die ihre Untertanen kommandierte.

Gerade als der Mann sich erhob, ruinierte ein unterdrücktes Glucksen aus Richtung der Tür ihren Auftritt. Ein weiterer Mann, ungefähr um die vierzig Jahre alt, stand im Türrahmen, der zu einem weiteren Büro zu führen schien.

Oh nein! Das musste Mr Bevin sein und sie versuchte gerade, mit ihren hochnäsigen Worten seinen Assistenten einzuschüchtern. Das konnte nicht gut gehen! Trotzdem lächelte er sie an und nickte.

„Kommen Sie bitte in mein Büro, Miss Proctor. Ich bitte Sie, das Missverständnis zu entschuldigen. Ich muss vergessen haben, dass wir uns heute treffen wollten, und habe es dementsprechend auch versäumt, meinen Assistenten darüber zu informieren.“ Sein angenehmer Tonfall beruhigte sie. Und vor allem das sympathische Lächeln, das seine Lippen immer noch umspielte.

Mit erhobenem Kopf, der jedoch trotzdem nur bis zu seinem Kinn reichte, schritt sie an ihm vorbei und nahm in einem Ledersessel Platz. Er schloss die Tür hinter sich und ging um seinen Schreibtisch herum, um sich dahinter zu setzen.

„Sie müssen Mr Lyons entschuldigen. Er ist manchmal ein wenig großspurig, aber sein Vater ist ein Freund von mir und bat mich, ihn bei mir aufzunehmen.“

Etwas von ihrer Forschheit verschwand. „Ich hätte mich nicht aufregen dürfen. Ich entschuldige mich für meine Unhöflichkeit.“

Mr Bevins Stuhl knarzte, als er sich nach vorne lehnte und sein Kinn in die Hand stützte. „Eigentlich finde ich, dass Sie ganz gut mit ihm umgegangen sind. Man muss schlagfertig sein, vor allem hier in Texas. Und jetzt … erzählen Sie mir doch von der Verabredung, die mir entfallen ist, und warum ich Sie so dringend bei mir sehen wollte.“

Adelaide spürte, wie sie errötete. „Also … es war eher so eine Art öffentliche Einladung. Keine, die an mich speziell adressiert war. Ich habe die Anzeige in der Gazette gelesen und würde mich gerne als Hauslehrerin bewerben.“

„Pfiffig ausweichend und gleichzeitig ehrlich. Eine bewundernswerte Kombination.“

Sein Verhalten half ihr, sich zu beruhigen. Tatsächlich erinnerte sie das freundliche Lächeln und das Grau an seinen Schläfen an ihren Vater. Natürlich wäre ihr Vater nicht in eine so vornehme Weste gehüllt gewesen, aber sie fühlte sich immer wohler.

„Sind Sie denn für diese Position qualifiziert, Miss Proctor?“

„Ja, Sir.“ Sie holte ihre Referenzen hervor und schob ihm die Papiere über den Schreibtisch hinweg zu. „Ich habe 1880 meinen Abschluss am Bostoner Lehrerseminar gemacht und dann zwei Jahre in Cisco, Texas, unterrichtet.“

Sie schloss ihre Handtasche so ungeschickt, dass die Metallschnalle ihre Haut einklemmte. Als Mr Bevin ihre Empfehlungsschreiben gelesen hatte, waren die Tränen wieder aus ihren Augen verschwunden.

„Ihre Kollegen und Vorgesetzten haben eine hohe Meinung von Ihnen, sowohl fachlich als auch menschlich.“ Er ließ die Briefe sinken und sah sie über den Schreibtisch hinweg an. „Es hört sich an, als hätte man sich gewünscht, dass Sie in Cisco bleiben. Darf ich fragen, warum Sie von dort weggegangen sind?“

„Ich dachte, ich würde heiraten.“

Als die Worte ihren Mund verlassen hatten, hätte Adelaide sie am liebsten umgehend wieder eingefangen. Die Aufregung musste ihren Verstand verwirrt haben. Jeder halbwegs normale Mensch hätte doch einfach nur persönliche Gründe angegeben und das nicht weiter ausgeführt. Warum hatte sie sich nicht zwei Sekunden Zeit genommen, um nachzudenken und eine angemessene Antwort zu finden, anstatt den ersten Gedanken hinauszuposaunen, der ihr in den Sinn kam?

„Dann gehe ich davon aus, dass daraus nichts geworden ist?“ Sein Tonfall klang ein bisschen neugierig, doch nicht nach Mitleid, und dafür war sie ihm dankbar.

„Gott scheint andere Pläne für mich zu haben“, sagte sie und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerken würde.

„Ach, Sie sind also gläubig. Mr Westcott bevorzugt es, Christen einzustellen. Das wird Ihnen zugutekommen.“ Er stützte die Hände auf die Schreibtischkante und erhob sich. „Es gibt zwei andere Bewerberinnen, die ich für geeignet halte. Doch Mr Westcott besteht darauf, dass er die entscheidenden Gespräche selbst führt – nachdem er gesehen hat, wie jede Bewerberin mit seiner Tochter umgeht. Wir nehmen den Acht-Uhr-Zug morgen früh. Wenn Sie immer noch interessiert sind, stelle ich Ihnen ein Ticket zur Verfügung.“

Er streckte ihr die Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen. Nachdem Adelaide sich bei Gott über seine langsame Vorgehensweise und die Geduld beschwert hatte, die sie in den letzten Wochen hatte aufbringen müssen, war sie nun fast überwältigt von der Geschwindigkeit, mit der die Dinge um sie herum geschahen.

„Ich muss mich nur noch um eine sichere Fahrt für Saba bemühen“, sagte sie und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Mr Bevin hob eine Augenbraue. „Sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie ein Kind haben, Miss Proctor.“

Benommen versuchte sie, seinen Worten einen Sinn zu entnehmen. „Ein Kind? Nein, Sir. Ich habe ein Pferd.“

Nach einem sprachlosen Moment lachte er so laut auf, dass die Wände zu wackeln schienen. „Ein Pferd, sagt sie. Ha! Nun, Miss Proctor, ich empfehle Ihnen, das Tier entweder zu verkaufen oder so lange unterzustellen, bis Mr Westcott seine Entscheidung getroffen hat. Er –“

„Ich bezahle die Fahrt natürlich.“ Sie kramte in ihrer Tasche nach dem erforderlichen Geld. „Saba kommt mit mir.“

Sie hielt ihm die Münzen hin und wartete auf seine Reaktion. Er legte den Kopf zur Seite, musterte sie einen Augenblick und nahm dann das Geld entgegen.

„Nun gut. Ich kümmere mich darum.“ Er trat an ihr vorbei und legte die Hand auf den Türknauf. „Mit dem Zug können wir nur die halbe Strecke fahren. Danach müssen wir noch ein paar Tage über Land reisen. Ein Ersatzpferd wird uns sicher dienlich sein.“

„Danke, Mr Bevin.“

Er öffnete die Tür zum Vorzimmer. Zum ersten Mal seit vielen Minuten konnte Adelaide wieder tief durchatmen.

„Ach, Miss Proctor? Da gibt es noch eine Sache.“

Sie wandte sich um, um ihn anzuschauen. „Ja?“

„Sollte sich Mr Westcott für Sie entscheiden, machen Sie sich auf eine schwierige Aufgabe gefasst.“

Vielleicht war seine Tochter ein Wirbelwind, der seine Gouvernanten bisher mit Eidechsen und Schlangen terrorisiert hatte. Doch durch so etwas würde Adelaide sich mit Sicherheit nicht abschrecken lassen. Sie war auf einer Farm groß geworden, also gab es nichts, was sie erschrecken konnte.

„Mit ein paar Kinderstreichen komme ich schon zurecht“, gab sie voller Selbstbewusstsein zurück.

„Es sind keine Kinderstreiche, mit denen Sie sich gegebenenfalls auseinandersetzen müssten. Es ist die Kommunikation.“

Sie wartete darauf, dass Mr Bevin sich genauer ausdrückte.

„Das Kind ist fast fünf und muss immer noch die Buchstaben lernen.“

„Ich verstehe nicht, wo das Problem ist. Ich habe vielen Kindern das Schreiben –“ Sie hielt inne, als er langsam den Kopf schüttelte.

„Miss Proctor, das Kind ist stumm.“

Sturz ins Glück
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